Teleutotje hat es bereits angesprochen, wie bedeutend das Schweizer Wallis für die Erforschung der europäischen Ameisen war. So denke ich, dass dieser Thread vielleicht der geeignete Ort ist, um einen Nachruf auf HEINRICH KUTTER einzubringen, der dort so aufregende Entdeckungen gemacht hat!
Der Beitrag erschien ursprünglich 1992 in der Zeitschrift der Dt. Ameisenschutzwarte “Ameisenschutz aktuell” 3/92, S. 69-71. (Er wurde nur sprachlich an die Neue Dt. Rechtschreibung angepasst).
Ich hoffe, dass dieser Beitrag auch für die jungen Myrmekologen einen lesenswerten Einblick in die Geschichte der europäischen Myrmekologie vermitteln kann!
HEINRICH KUTTER - Nestor der europäischen Ameisenforschung †
von Alfred Buschinger
Am 23. Juli 1990 verstarb Dr. Dr. h.c. mult. HEINRICH KUTTER, im 94. Lebensjahr. Nur wenige Menschen haben ein Forschungsgebiet so mitgeprägt wie er die Myrmekologie, wenige haben sich zeitlebens so sehr für diese Wissenschaft engagiert. Lange Jahre führte Dr. KUTTER die "Ameisenapotheke" in Flawil, in deren Schaufenster stets lebende Ameisen den Blickfang bildeten. Doch seinen Beruf betrachtete er mehr als Broterwerb: "So musste ich Apotheker werden, um überhaupt weiter ameiseln zu können" schrieb er mir 1971. Seine Liebe gehörte den Ameisen.
Bereits in jungen Jahren war HEINRICH KUTTER den krabbelnden Kleintieren verfallen. Als Siebzehnjähriger, 1913, hat er die erste Arbeit über die Biologie der Roten Waldameisen veröffentlicht, die letzte Publikation datiert von 1986, über Anomalien einheimischer Formiciden. Eine Fülle von hochinteressanten Beobachtungen, Experimenten, Entdeckungen haben wir ihm zu verdanken. Ganz besonders hatten es ihm die sozialparasitischen Ameisen angetan, die auf Kosten anderer Arten leben und die in Lebensweise und Gestalt auf oft skurrile Weise von normalen Ameisen abweichen. Sorgfältigste Zeichnungen der Tiere sind in großer Zahl in seinem Buch "Formicidae" in der Reihe "Insecta Helvetica Fauna" (1977) und in dem zusätzlichen Abbildungsband enthalten. Einige dienten nebenbei als Vorlage für die Gestaltung der Schweizer 1000 - Franken-Note. Niemand, der in Europa Ameisen zu bestimmen hat, kommt um dieses Buch herum.
KUTTER entdeckte den Sklavenraub von
Strongylognathus alpinus, fand eine ganze Reihe für die Schweiz neuer Ameisenarten. Besonders fruchtbar waren die Jahre um 1950, als er, zum Teil in Begleitung von STUMPER und GÖßWALD, die Hochgebirgsfauna im Wallis studierte. Mehrere neue sozialparasitische Arten waren die Ausbeute, darunter die wohl merkwürdigste Ameise,
Teleutomyrmex schneideri, die quasi als Ektoparasit auf dem Rücken der Königin ihrer Wirtsart schmarotzt. "Die sozialparasitischen Ameisen der Schweiz", 1969 als Neujahrsblatt der Naturforschenden Gesellschaft Zürich erschienen, ist eine grundlegende Darstellung, die nicht nur ich immer wieder zu Rate ziehe. In jeder Zeile spürt man die Begeisterung, die Liebe zum Detail, die alle seine Arbeiten kennzeichnet.
HEINRICH KUTTER wurde, wie er in seinen "Persönlichen Erinnerungen an AUGUSTE FOREL" 1968 schreibt, von R. BRUN bei FOREL eingeführt. Tief beeindruckt war er, achtzehnjährig, von diesem großen Gelehrten, dem er eine Weile als Adlatus diente. Wenn der damals bereits halbseitig gelähmte Forscher mit KUTTER Ameisen sammeln ging, so ließ sich FOREL im Schatten nieder und dirigierte seinen Schüler, der
"mit viel Eifer alle Steine drehte, Rinden ablöste, Erdhügel ausgrub" und seine Funde dem Meister brachte.
Der einzige Kummer: FOREL war ein Frühaufsteher, und "
nach dem Nachtessen hieß es sofort zur Ruhe gehen, selbst wenn das Herz des Famulus so gerne noch etwas den Tessinerabend genossen hätte". Noch über 70 Jahre später hat er mir diese Erinnerung lebhaft geschildert. Lange nach den ersten myrmekologischen Arbeiten wurde HEINRICH KUTTER promoviert, 1934, am Entomologischen Institut der ETH Zürich, bei Prof. O. SCHNEIDER-ORELLI. Ihm widmete er später seine "Endameise",
Teleutomyrmex schneideri. Zwei Ehrenpromotionen durch die Universitäten Lausanne und Bern folgten, in Anerkennung seiner hervorragenden wissenschaftlichen Leistungen.
Meine erste Begegnung mit KUTTER war 1963. Als junger Student hatte ich damals gerade mit der Ameisenforschung begonnen, war noch völlig ahnungslos. Aber er nahm mich ernst. Es entwickelte sich ein Vierteljahrhundert regen Briefwechsels,wiederholt hatte ich Gelegenheit, ihn zu besuchen, zuerst in Männedorf, später in Egg. Ich verdanke ihm sehr viel. Stets hat er mich ermuntert und angefeuert. 1965 wurde ich zu einem Aufenthalt in Saas-Fee eingeladen. Es galt, für ein Fernsehprojekt möglichst viele der seltenen, von KUTTER dort entdeckten Ameisen beizubringen. So wurde ichfür ein paar wunderbare Tage zum Famulus des nun fast Siebzigjährigen! Von den zahlreichen Anregungen auf dieser Reise kann ich noch heute zehren.
Es war mir immer ein Bedürfnis, HEINRICH KUTTER meine eigenen neuen Entdeckungen mitzuteilen, ihm Publikationen zu schicken, denn stets nahm er lebhaft Anteil, äußerte begeisterte Glückwünsche, freute sich von Herzen mit. "
Herrlich, gratuliere von ganzem Herzen!", das war seine Reaktion 1984, als es mir endlich auch gelungen war, den
Teleutomyrmex zu finden. Im gleichen Jahr, im Alter von 88 Jahren, schrieb er mir: "
Die Myrmekologie lebt doch noch sehr - das ist schön! Wie hätte mein alter Freund FOREL gestaunt."
Das hohe Alter hat ihn zuweilen bedrückt. Insbesondere die Pflege seiner geliebten Frau LUISE, mit der er 52 Jahre verheiratet war, und die nach schwerer Krankheit 1979 verstarb, hat ihn wohl sehr belastet. Seine liebevolle Fürsorge, das geht aus den Briefen dieser Zeit hervor, hat nie nachgelassen. Und auch nicht sein Schaffensdrang. Bald kamen wieder neue Publikationen heraus, schrieb er über seine intensive Unterstützung für Kollegen, die in beruflichen Schwierigkeiten waren. 1981 teilte er mit, dass es ihm "d
em-Alter entsprechend unverschämt noch gut geht", als "
alten Greuel" und "
alten
Wildling" bezeichnet er sich 1983, der sich dennoch freut, dass ihn die jüngere Generation noch beachtet. 1985: "
Mir geht es dem hohen Alter entsprechend. Ich vegetiere noch". Doch dies war eine Untertreibung: Bis zuletzt hat HEINRICH KUTTER seinen unerschütterlichen Humor behalten!
Unter den zahlreichen Besuchern, die immer wieder den Weg zu ihm fanden, war 1986 ein ganz besonders prominenter: Prof. E. O. WILSON von der Harvard-Universität, weltweit führender Soziobiologe und Ameisenforscher, der für eine Felix-Santschi-Vorlesung nach Zürich gekommen war. Beide hat diese Begegnung tief bewegt.
Ich habe einen wahren Freund verloren. Doch in der Erinnerung wird er weiterleben. HEINRICH KUTTER hat seinen verdienten Platz in der Reihe der großen Myrmekologen.
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